In diesem Buch lässt uns Fulvio Ventura durch seine gedankliche Traumwelt reisen. Vorher führten uns fast alle Fotografiebücher zu einer klar begrenzten Realität: zu einem Land, einer bestimmte Art von Menschen, bestimmten Monumenten. Die Dokumentation waren ihr einziger Zweck. Doch schon Paris de nuit von Brassai (1932) oder Paris des Rêves, von Izis (1950) brachten uns das poetische Universum ihrer Autoren näher. Und Henri Cartier-Bresson gestand schon am Anfang der Images à la sauvette (1932) seine Subjektivität ein und erinnerte den Leser daran, dass “die Bilder dieses Buches nicht behaupten, eine generelle Idee über dieses oder jenes Land zu vermitteln“. Bei einigen junge Fotografen hat diese Weiterentwicklung zu ganz bewussten Umsetzungen geführt. In Frankreich möchte ich Contretemps von Arnaud Class (1978) zitieren. Hier bringt Fulvio Ventura diesen Prozess zu seiner vollendesten Essenz.
Die Geschichte, die uns Fulvio Ventura erzählt, ist von einer seltsamen Art. Sie besteht aus genauso vielen mysteriösen Löchern wie aus rätselhaften Erscheinungen. Wie seine Träume kommen diese Bilder aus Fulvio Ventura selbst, doch sie erscheinen ihm unbekannt, wie aus einem anderen Land. Sie sind ihm sowohl außergewöhnlich intim als auch völlig fremd. Das fotografische Schaffen hat das Privileg, den Kreateur sofort mit seinem Werk zu konfrontieren, als wäre es das Werk eines anderen. Eine sowohl schwierige als auch fruchtbare Situation. Für Ventura sind diese Bilder wie Erscheinungen von zwei Horizonten, die ihm entgleiten, auf der einen Seite die Erscheinung der objektiven Realität, die außerhalb seiner selbst liegt, und auf der anderen Seite das unbewusste Substrat seines Denkens, das ihm nicht weniger unbekannt ist als die objektive Welt. Die Bilder befinden sich am Zusammenfluss dieser beiden Exzesse.
Er versucht sie mit klaren Bewusstseins zu erfassen, um sie in einer gewissen Ordnung zusammenzubringen. Dafür sammelt Ventura die Aufnahmen die der ‚Erosion der Augen‘ widerstehen. Sie bleiben unerschütterlich, von unbestimmter und unverminderter Qualität, wie die Bruchstücke eines schönen, verlorenen Romans. Wie die verstreuten Teile einer Welt, die anderswo in einem unerreichbaren Absoluten sollten. Aber unzählige Teile werden immer fehlen und der Faden ist verloren.
Ventura ist angesichts dieser Bilder und diese tückischen Orte wechseln sich ab mit grossen Räumen, menschenleeren Ebenen, an deren Ende das Fenster eines einsamen Hauses leuchtet nicht weiter als jeder von uns. Sie sind das Mysterium eines Rätsels. Vor ihnen können wir den bedeutsamen Satz von Diane Arbus überprüfen: “Eine Fotographie ist ein Geheimnis über ein Geheimnis“.
Rätselhafte Fragmente einer seltsamen Geschichte, Ventura wählte sie unter vielen aus, weil sie ihm nahe standen und direkt betrafen. Und auch wenn er sie völlig zufällig gefunden hatte, hingen sie an ihm fest wie so manche vertrauten Objekte, “die sich an unsere Seele klammern“.
Er wagte den Sprung zu entscheiden, dass sie auch andere berühren können. Er will uns ein sehr geheimes Gefühl vermitteln mit der Wette, dass es auch unser Gefühle sein können oder besser das es bereits unser Gefühl ist. Und das ohne jeglichen Kommentar, der die wesentliche Einsamkeit jeder Fotografie verraten würde.
Das Geheimnis selbst wird hier zum tiefsten Antrieb unserer Reise. Wir sind nie da wo wir anzukommen glauben, sondern immer an einem vorübergehenden Ort, um einen anderen neuen unsicheren Ort zu erreichen. Wie Dante, der sich im ersten Lied der Hölle in einem dunklen Wald verirren musste, bevor er seinen Weg fand, müssen wir unter den beängstigenden Augen von Chimären und heraldischen Bestien, die die Tore der Welten des Jenseits bewachen, vorankommen. Wir durchqueren enge mit Stacheln bewachsene Gänge, stickige Gewächshäuser voller halluzinogener Kakteen.
Seltene, flüchtende Figuren, die man kaum erkennen kann, hätten ein Zeichen, eine Nachricht für uns. Wir folgen ihnen am Flussufer und in den Korridoren der U-Bahn. Sie treiben ein rätselhaftes Spiel, ohne das ein Ende abzusehen wäre und vielleicht ist das alles auch nur eine Illusion. Der Hinweis und der Fall sind hier durcheinander geraten, um den Ermittler verrückt zu machen.
Manchmal steht jemand vor uns. Ist es das böse, plötzlich materialisierte Genie, das diese Sarabande anführt? Aber alles, was wir sehen, ist ein Mann, der sich mit dem spöttischen Lächeln eines kleinen Mädchens und den staunenden Augen eines großen Babys hinter seiner dunklen Brille versteckt und dann verschwindet er auch schon wieder. Und die Verfolgungsjagd wird immer schneller, geht durch die vom Regen durchpeitschten Ebenen, bis sich die Bilder im Schatten der Dämmerung auflösen…
Und so navigierten wir von einem Bild zum anderen und obwohl wir uns manchmal verirren und abtreiben, fügen wir sie schließlich zusammen, ohne dabei ihr Schweigen zu brechen oder ihre Einsamkeit zu verschmutzen.
Jean-Claude Lemagny, Historiker der Fotografie, Kurator der Abteilung für Drucke und Fotografie der Nationalbibliothek von Frankreich